Leserbrief zum Thema „Viele Kinder erfahren Gewalt statt Geborgenheit“

Leserbrief zum Artikel „Viele Kinder erfahren Gewalt statt Geborgenheit“, Titelseite der neue Westfälische Zeitung,19.2.2016

Dorothea Böhm

Man sollte meinen, dass wir in Sachen Vorbeugung von Kindesmisshandlung nichts unversucht lassen. Man sollte meinen, dass wir schon um der Kinder willen alles dafür tun, damit Mütter und Väter vor Stress, Zeit- und Geldnot geschützt sind. Die (familienministerial gewollte) Realität sieht jedoch anders aus. Das Motto „gutes Geld für gute Arbeit“ gilt nur außer Haus, jede innerfamiliär geleistete Care-Arbeit muss der Gesellschaft geschenkt werden. Als Folge davon sind Eltern zu zusätzlicher Erwerbsarbeit genötigt und geradezu zwangsweise überlastet.
Aber nicht nur überlastete Eltern geraten in Gefahr zu entgleisen und ihre Kinder zu misshandeln. Nicht nur Schläge, Anschreien und kühle Abweisung sind für Kinder traumatisierend. Ob es uns passt oder nicht, die von Ökonomieseite bejubelte U3-Betreuung ist ebenfalls reale Kindesmisshandlung! Wenn Mama oder Papa trotz des verzweifelten Appellweinens ihres Kinds fortgehen, hört es nach kurzer Zeit auf zu weinen. Die Eltern werden mit diesem Umstand später beschwichtigt. Die betreffenden Kinder haben sich jedoch mitnichten „beruhigt“, sie folgen einem uralten genetischen Programm, in der Schutzlosigkeit des Verlassenseins nur ja keine Beutegreifer durch Geräusche auf sich aufmerksam zu machen. Deswegen sind sie still und buchstäblich erstarrt vor Angst, weswegen dies als „Freeze“ bezeichnet wird. Menschen sind weder Nestflüchter noch Nesthocker, sondern, wie alle höheren Primaten, Traglinge. Ausbau und Förderung der U3-Betreuung ist eine Fehlentwicklung. In den ersten drei Lebensjahren ist unser emotionaler Fürsorgebedarf aufwändig und nur durch Liebe, primäre Bindung und im Modus 1:1 vollumfänglich zu gewährleisten. Deswegen sind Menschen auch „gemeinte“ Einlinge. Erst ab etwa dem vierten Geburtstag sind Kinder gemäß ihres Entwicklungsstand in der Lage, ohne Schmerz und Schaden einige Stunden lang ohne ihre primäre Bezugsperson auszukommen und damit tagesgruppenkompatibel. Nur wenn wir uns darauf besinnen, wie wir Kinder in evolutionär vorgesehener Weise aufwachsen lassen, fördern wir Wohlbefinden, Glücksgefühl, Resilienz, Empathie – und gewaltfreie Erziehung, wenn die späteren Erwachsenen selbst Eltern werden.